Ein herrenloser Koffer im Dortmunder Hauptbahnhof versetzt tausende in Terrorangst. Eine anonyme Bombendrohung legt den Berliner Flughafen Tegel lahm. Mit den Anschlägen von Madrid hat der internationale Terror den europäischen Alltag ereilt. Niemand ist nirgendwo mehr sicher: nicht die Touristen, die durch die Städte flanieren, nicht die Bürger, die in den Cafés ihr Croissant geniessen, nicht die Jungen, die sich in den Discos im Tanz ausleben, nicht die Werktätigen, die mit S-Bahn und U-Bahn zur Arbeit fahren.
Für uns Europäer ist klar: Was für eine Terror-Organisation auch immer in Madrid gebombt hat, es handelt sich um gewöhnliche, wenn auch aussergewöhnlich brutale Verbrecher, die vor nichts zurückschrecken, die auf hinterhältigste Weise Zivilisten hinmorden, Männer, Frauen, Kinder, wer immer sich gerade dort aufhält, wo sie ihre Bomben detonieren lassen.
Und weil uns klar ist, dass wir es mit Mördern - mit Massenmördern - zu tun haben und mit nichts sonst, wollen wir auch nichts hören von den politischen oder wirtschaftlichen oder kulturellen Begründungen, auf Grund derer sich Menschen in Terroristen verwandeln. Wir fordern «Null Toleranz!». In unseren Köpfen üben wir null Toleranz: Für terroristischen Mord an Unschuldigen gibt es nicht den Hauch einer Rechtfertigung! Doch waren wir Europäer immer schon und in jedem Fall so konsequent wie heute, in den Tagen nach Madrid?
Verurteilten, ja verurteilen wir mit derselben Härte die Selbstmordattentate der Mörderbanden von Hisbollah oder Hamas gegen Israel? In Israel ist für Kinder der Transport im Schulbus seit Jahren lebensgefährlich, ebenso für junge Menschen der Besuch einer Disco, für Touristen das Geniessen der Sonne im Strassencafé und für Angestellte die Busfahrt ins Büro. Die schreckliche israelische Realität hat uns jedoch bisher nicht daran gehindert, dem islamistischen Terror die Aura eines Kampfes des palästinensischen David gegen den israelischen Goliath zu verleihen.
Die Bilder, mit welchen die europäischen Medien eine solche Verzerrung der Wirklichkeit produzieren, sind stets dieselben: modernste Panzerfahrzeuge und hochgerüstete israelische Soldaten gegen Steine werfende jugendliche Palästinenser - plus Opfer der israelischen Militärs plus zerstörte armselige Katen der Bewohner plus Frauen und Männer, die ihr Elend in die Kamera schreien. Wer könnte da anders, als seine Sympathie den Entwurzelten und Ohnmächtigen zu schenken?
Es bedarf nur noch des gewichtigen und übermächtigen Sharon, der die israelische Militäraktion vor den Medien rechtfertigt - schon ist die palästinensische Propagandaschlacht, mit westlich-journalistischer Waffenhilfe, siegreich geschlagen. So ist es seit Jahren. An den Terror gegen Israel haben wir uns gewöhnt als eine Art erklärbaren Terrors, mit nicht ganz unschuldigen Opfern sozusagen.
Im Übrigen ist ja niemand gezwungen, der kleinen, wehrhaften Demokratie im Nahen Osten einen riskanten Besuch abzustatten. Jetzt besucht der Terror uns. Er wird da bleiben, in unseren Städten, in unseren Cafés, in unseren Discos, in unseren S-Bahnen und U-Bahnen, auf unseren Flughäfen. Wir sind jetzt alle Israelis! Opfer! Unschuldige Opfer!
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